Freitag, 30. November 2012

Klaus Holzkamp zum 85. (http://criticalpsychology.wordpress.com #holzkamp #kritischepsychologie) Ein Artikel von Michael Zander in der "Jungen Welt"


 

 

Kritischer Psychologe

Wissenschaft. Der Marxist Klaus Holzkamp wäre heute 85 Jahre alt geworden

Von Michael Zander
»Emanzipatorische Relevanz« als Kriterium menschlich
»Emanzipatorische Relevanz« als Kriterium menschlichen Handelns: Klaus Holzkamp (geboren am 30. November 1927 in Berlin, gestorben am 1. November 1995 ebenda)
Foto: Argument Verlag
Vielleicht ist jetzt schon der Zeitpunkt gekommen, um an einige Leistungen zu erinnern«, schrieb einst Georg Fülberth in der Zeit (22.7.1999), als »eine anrollende Pensionierungswelle an den Hochschulen (…) eine ganze Alterskohorte von marxistischen Professoren« hinausspülte – wobei er freilich westdeutsche Professoren meinte. »Elmar Altvater, Frigga und Wolfgang Fritz Haug, Klaus Holzkamp in West-Berlin, Thomas Metscher in Bremen, Joachim Hirsch in Frankfurt/Main: Sie und einige andere haben in den drei vergangenen Jahrzehnten das zusammengetragen, was man im akademischen Sinn ein ›Werk‹ nennen kann, in dem eine klar definierte Position durchgehalten (…) wird.« Zwar könne man dies auch von bürgerlichen Kollegen sagen, nur werde man bei diesen nicht viel »über die Profitratenentwicklung und den Akkumulationsprozeß des Kapitals (…), Warenästhetik, den Sicherheits- und nationalen Wettbewerbsstaat sowie die gesellschaftliche Konstitution des angeblich nur individuellen Subjekts erfahren.« Klaus Holzkamp, Jahrgang 1927, unterschied sich von den anderen insbesondere dadurch, daß er rund zehn Jahre älter war. Als ab 1967 die Studierenden protestierten, war er bereits ein etablierter Professor an der FU Berlin, der sich einen Namen mit Büchern über grundsätzliche Fragen der Psychologie gemacht hatte. Beruflich steckte er allerdings in einer Krise, weil seine bis dahin gewonnenen Einsichten ihn ernsthaft an der Wissenschaftlichkeit des Fachs zweifeln ließen. Angeregt durch die Studierenden begann er mit der Lektüre marxistischer Klassiker und fand dort die gesellschaftswissenschaftliche Grundlage, derer die Psychologie so dringend bedurfte.

Zu den Institutionen, die die damalige Protestbewegung grundlegend verändern wollte, gehörten nicht zuletzt die Wissenschaften selbst. Jede Disziplin wurde kritisch daraufhin untersucht, inwieweit ihre Theorien und Praxen zur Stabilisierung des Kapitalismus beitrugen. In der Frage, was mit der Psychologie zu tun sei, gingen die Meinungen unter den westdeutschen Studierenden und den wenigen marxistisch orientierten Professoren auseinander. Eine Strömung hielt die Psychologie für ein genuin bürgerliches Herrschaftsinstrument, das nicht für den Klassenkampf von unten umzufunktionieren, sondern nur abzuschaffen sei. Andere, unter ihnen der Hannoveraner Professor Peter Brückner (siehe jW vom 11.4.2012), vertraten die Auffassung, eine marxistisch modifizierte Psychoanalyse biete den geeigneten Ansatz, um etwas zur Aufdeckung der kapitalistischen Verhältnisse beizutragen. Holzkamp hingegen plädierte dafür, das Fach von seinen Grundlagen her zu kritisieren und von da aus eigenständige Positionen zu entwickeln. Damit zog er auch die Konsequenz aus dem Scheitern eines von ihm betreuten studentischen Projekts: Der Schülerladen »Rote Freiheit«, der, wie zahlreiche ähnliche Einrichtungen, den damals herrschenden postfaschistischen Erziehungsvorstellungen praktisch etwas entgegensetzen wollte, ging nicht nur an einer Hetzkampagne der Springer-Presse zugrunde. Durch die zunehmenden Konflikte in der täglichen Arbeit wurde Holzkamp und den Studierenden klar, daß es an konzeptionellen Grundlagen mangelte, deren Fehlen nicht durch Enthusiasmus wettgemacht werden konnte. Nötig waren neue Begriffe, Theorien, Perspektiven.

Deren Erarbeitung wurde beflügelt durch eine linke Hegemonie am zunehmend demokratisch organisierten Psychologischen Institut der FU Berlin, auf die konservative Professoren mit der Gegengründung eines »Instituts für Psychologie« reagierten. Kooperierende Kollegen Holzkamps, die bis heute die Kritische Psychologie repräsentieren, waren Wolfgang Maiers, Morus Markard, Ute Osterkamp und Gisela Ulmann. Im Laufe der Jahre bildeten sich im In- und Ausland mehrere kritisch-psychologische Arbeitsgruppen. Federführend waren etwa der Psychotherapeut Ole Dreier in Kopenhagen, der Jugend- und Migrationsforscher Josef Held in Tübingen und der Friedensforscher Wilhelm Kempf in Konstanz.

Grenzen des Experiments

Holzkamps Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Kritik an seinem Fach war die Orientierung der Psychologie an den Naturwissenschaften und am Experiment als der zentralen Methode. Diese Orientierung, so Holzkamp, sei verfehlt, weil die Humanpsychologie nicht mit unbelebter Materie oder Tieren umgehe, sondern mit anderen Menschen, also mit potentiell ebenbürtigen Erkenntnissubjekten. Deren Verhalten im Experiment ergebe sich nicht unmittelbar aus den jeweils festgelegten Bedingungen, sondern aus der subjektiven Interpretation der mit dem Versuchsleiter verabredeten Situation. Diese Interpreta­tion wiederum könne die Ziele des Experiments durchkreuzen: Beim Erlernen »sinnloser Silben« etwa könne die Versuchsperson sinnvolle Worte zu den Silben assoziieren; bei der Stellungnahme zu einer Aussage auf einem Fragebogen könne sie überlegen, ob »der Experimentator dieser Feststellung wohl zustimmen würde, um danach ihr Kreuz zu setzen«. Maßnahmen, die derartige »Störbedingungen« ausschalten sollen, führten in der Tendenz zu einer immer stärkeren Kontrolle der Versuchsperson, der schließlich kaum etwas anderes übrig bleibe, als die von ihr erwarteten Verhaltensweisen zu zeigen. Menschen, die eine Geschichte haben und über die Fähigkeit verfügen, ihre Lebensumstände bewußt zu gestalten, würden so auf den Status von »Organismen« reduziert, deren Handlungsmöglichkeiten gegenüber fremdgesetzten Bedingungen stark eingeschränkt sind.

Diese Einwände hätten vielleicht nicht allzu schwer gewogen, wenn die experimentelle Psychologie eine erfolgreiche Forschungsstrategie gewesen wäre, die Jahr für Jahr stürmische Erkenntnisfortschritte zu verzeichnen gehabt hätte. Dem war aber nicht so. Statt dessen wurden triviale oder tautologische Befunde angehäuft, denen zufolge etwa aufgrund von »Belohnungen« gelernt wird und umgekehrt Lernen das ist, was auf Belohnungen folgt. Und Feldstudien der 1970er Jahre sollten zeigen, daß Menschen in Altersheimen sich wohler fühlen, wenn sie »positive Ereignisse« vorhersehen und selbst herbeiführen können.

»Technisch relevant«, so Holzkamp, seien Befunde dann, wenn es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Experiment und der außerexperimentellen Wirklichkeit gibt. Dies gelte insbesondere für stark standardisierte und überschaubare Situationen. So könnten beispielsweise Experimente helfen, um Fehlerquellen beim Bedienen von Maschinen zu entdecken. Andere Gegebenheiten in der Praxis seien hingegen so komplex, daß eine Übertragung von im Labor veranschaulichten Theorien kaum möglich sei. Ein Lehrer könne in der Schule mit den klassischen psychologischen Modellen von Lernen kaum etwas anfangen.

Der technischen Relevanz stellt Holzkamp programmatisch eine »emanzipatorische Relevanz« gegenüber. Damit bezeichnet er das zentrale Kriterium einer neu zu entwickelnden »kritischen Psychologie«, die gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse erforscht. Gemeint sind Abhängigkeiten, die »auf ökonomischen und sozia­len Herrschaftsstrukturen« beruhen, sowie der »Realitätsverlust«, mit dem sich der Mensch über die »Unterdrückung seiner Interessen und Bedürfnisse hinwegtäuscht«.

Motivation und Depression

Rigide Lernziele, andauernde Bewertung und Konkurrenz: Mit Holzk
Rigide Lernziele, andauernde Bewertung und Konkurrenz: Mit Holzkamp gilt es, der »Verwahrlosung der Lernkultur« entgegenzutreten (Vorlesung an der TU Dresden)
Foto: ddp
Zehn Jahre lang erarbeiteten Holzkamp und Kollegen die begrifflichen Grundlagen ihres neuen Ansatzes, wie in mehreren Monographien sowie in Beiträgen der 1978 gegründeten Zeitschrift Forum Kritische Psychologie (FKP) nachzulesen ist. Dabei ließen sie sich von folgenden Überlegungen leiten: Die Analyse darf nicht erst mit dem Kapitalismus beginnen, da das Zentralnervensystem, wie der menschliche Organismus insgesamt, ein Produkt der Evolution ist. Die Fähigkeit, Gesellschaften zu bilden und sich in ihnen zu entwickeln, muß ein evolutionäres Resultat sein. Zugleich bedeutet dies, daß sich Vorformen humanpsychischer Leistungen bei Tieren und insbesondere bei Primaten finden lassen müssen. Ein Abgleiten der Forschung in Biologismus verhindert man dadurch, daß man sorgfältig die Unterschiede zwischen biologischer und historisch-gesellschaftlicher Entwicklung herausarbeitet. Die Gesellschaft muß dabei als von Menschen produziert begriffen werden und darf nicht, wie in der bürgerlichen Psychologie, als bloße Randbedingung menschlichen Verhaltens erscheinen. Und schließlich sollten sich mittels psychologischer Grundbegriffe auch spezifische, das heißt in unserem Fall kapitalistische Herrschaftsverhältnisse abbilden lassen.

Was dies konkret bedeutet, läßt sich am Beispiel von »Motivation« erläutern. Unter Motivation versteht Holzkamp die gelernte wertende Vorwegnahme künftiger Situationen, für deren Erreichung aktuelle Bedürfnisse zurückgestellt werden. Motivierte Aktivitäten stellen sich im Rahmen tierischer Sozialverbände mehr oder weniger automatisch ein. Mit der Entwicklung zum Menschen wird dies zunehmend problematisch. Gesellschaftlichen Anforderungen ist nicht ohne weiteres anzusehen, ob ihre Erfüllung die eigene Situation langfristig verbessert und den Aufschub aktueller Bedürfnisse lohnen würden. In antagonistischen Klassengesellschaften verschärft sich dieses Problem. Lohnarbeit etwa kann einerseits die eigene Existenz sichern, andererseits bedeutet sie potentiell immer auch übermäßige Verausgabung der eigenen Kräfte und kann dazu führen, daß man sich durch produktivitätssteigernde Leistungen selber überflüssig macht. Unter kapitalistischen Verhältnissen gehört es zur Alltagserfahrung, daß Arbeit in hohem Maße nicht motiviert ausgeführt, sondern erzwungen wird. Um die eigene Handlungsfähigkeit nicht zu gefährden, ist es naheliegend, dieses Zwangsmoment zu verdrängen und sich entsprechende ideologische Angebote zu eigen zu machen. Was genau dabei verdrängt werden muß, hängt auch von der Organisationsform des Kapitalismus ab. Der wohlfahrtsstaatliche »Fordismus« der alten BRD mit seiner Ideologie der »Sozialpartnerschaft« zwischen Lohnarbeit und Kapital ließ wenig Spielraum für abweichende Lebensentwürfe. Demgegenüber proklamiert der Neoliberalismus zwar die individuelle Freiheit, aber er untergräbt mit seinen befristeten Beschäftigungsverhältnissen, Niedriglöhnen und unbezahlten Praktika langfristig die Motivation der Lohnabhängigen, die nie sicher sein können, ob sich ihre Anstrengungen für sie lohnen werden. Vielleicht erklärt dieser Umstand die zunehmende Verbreitung von »Depressionen«, die ja in gewisser Weise das Gegenteil von motiviertem Handeln sind. Holzkamp zufolge wäre jedenfalls die Alternative zur Verdrängung gesellschaftlicher Zwänge die bewußte Einflußnahme auf die Verhältnisse. Dabei hängt es allerdings von historischen Umständen ab, ob eine wirksame kollektive Gegenmacht – beispielsweise in Gestalt von gewerkschaftlichen Kämpfen und sozialen Bewegungen – zustande kommt oder nicht.

Erschütterung, neue Produktivität

Einige der West-Berliner und westdeutschen Kritischen Psychologen, so auch Holzkamp, waren Mitglieder der DKP beziehungsweise SEW und der Ansicht, die Verstaatlichung der Produktionsmittel ebne den Weg zu einer erweiterten Teilhabe der Bevölkerung am gesellschaftlichen Prozeß. Ihr Verhältnis zur DDR war allerdings kompliziert. Holzkamp hielt Distanz zur dortigen Psychologie, deren Mainstream dem Fach im Westen ihm immer noch viel zu ähnlich sah. So sollte etwa erforscht werden, wie die Arbeitsproduktivität von Betriebskollektiven gesteigert werden könne, ohne die Arbeitenden in die Analyse einzubeziehen. Umgekehrt suchten manche DDR-Kollegen eher Kontakt zu den etablierten Fachvertretern im Westen als zu den marxistischen Außenseitern. Von einigen Wissenschaftlern wurde die Kritische Psychologie jedoch positiv rezipiert, beispielsweise von der Berliner Philosophin Irene Dölling oder von Achim Thom, Leipziger Psychiater und Herausgeber der Schriften Sigmund Freuds.

Nach dem Ende des ostdeutschen Staates zog Ute Osterkamp, Kollegin und Lebensgefährtin Holzkamps, ein persönlich gehaltenes Resümee: »Die Vorstellung, daß in der DDR (…) ein Stück Sozialismus realisiert bzw. Menschen darum bemüht waren, einen solchen Sozialismus zu entwickeln, bedeutete Halt und vermittelte zugleich die Hoffnung (…), dort in der Arbeit die Unterstützung zu finden, die einem im Westen weitgehend vorenthalten blieb (…). Daraus ergab sich die Neigung, alle, die Kritik an der DDR übten, als (…) Utopisten abzuwerten, die der antikommunistischen Propaganda aufsaßen und den Sozialismus verrieten, indem sie sich über die (…) Probleme seiner Verwirklichung hinwegsetzten. (…) In dieser Einschätzung fühlte man sich unmittelbar bestätigt, wenn einige (…) nach ihrer Abwendung vom Sozialismus zunehmend reaktionäre oder mystisch-versponnene Thesen vertraten.« Indem man aber die Kritiker zum Problem erklärt habe, sei das Wissen um die bestimmende Bedeutung der gesellschaftlichen Verhältnisse »für den Sozialismus suspendiert« worden. Selbstkritisch nennt Osterkamp dies eine »defensive« und »opportunistische« Haltung. Gleichzeitig lasse die pauschale Abwertung der DDR die BRD fälschlich als »Inkarnation der Freiheit, Demokratie und Zivilcourage« erscheinen. Dies entspreche der »Logik des Kapitals« und rechtfertige die Zerstörung sozialer Errungenschaften in beiden Teilen Deutschlands.

Trotz gesellschaftlicher und persönlicher Erschütterungen erlebte die Kritische Psychologie zu Beginn der 1990er Jahre eine Phase der Produktivität. Osterkamp untersuchte die Konflikte zwischen Bewohnern und Mitarbeitern in Flüchtlingswohnheimen vor dem Hintergrund einer zunehmend rassistischen Asylpolitik. ­Morus Markard und Gisela Ulmann begannen mit der Erforschung von Praxisproblemen, mit denen berufstätige Psychologen und studentische Praktikanten konfrontiert sind. Wilhelm Kempf und Michael Reimann wiesen die Wirkung von Kriegsberichterstattung nach. Während des Golfkriegs 1991 befragten sie Studierende zu ihrem Medienkonsum und baten sie, stattgefundene Menschenrechtsverletzungen einer Kriegspartei zuzuordnen. Es zeigte sich, daß die Studierenden trotz des ausgiebigen Konsums von »Qualitätsmedien« dazu neigten, von den USA begangene Menschenrechtsverletzungen eher dem Irak anzulasten.

Diese empirischen Studien waren auch deshalb wichtig, weil die wesentlich von Holzkamp erarbeiteten Konzepte zwar sehr anregend, aber auch recht abstrakt waren und dringend einer Konkretisierung bedurften. Holzkamp selbst gelang das in dieser Zeit mit einem aufsehenerregenden Buch zum Thema Lernen, in dem er die Institution Schule im westdeutschen Kapitalismus analysierte. Dabei folgte er einem zentralen Gedanken, den er bereits in seiner Kritik des psychologischen Experiments zugrunde gelegt hatte. Wie im Falle der Versuchsperson negiere die offizielle Ideologie die Subjektivität der Schüler, indem sie Lernen hauptsächlich zum Resultat von Lehre erkläre. Durch rigide Lernziele, andauernde Bewertung und Konkurrenz behindere Schule jedoch das Lernen und fördere eine »Verwahrlosung der Lernkultur«.

Neubeginn Ferienuniversität

Der Tod Klaus Holzkamps am 1. November 1995 fiel in eine Zeit des politischen Rückschritts an den Hochschulen und in der Gesellschaft. Das Psychologische Institut wurde aufgelöst und mit dem Institut für Psychologie fusioniert. Die Universitäten ließen sich massive finanzielle Kürzungen auferlegen. Die Regierungen des Bundes und des Landes nutzten die Pensionierung der wenigen verbliebenen linken und widerständigen Professoren, um kritische Studieninhalte und die Mitbestimmungsrechte der Studierenden zu beseitigen. Damit wurden faktisch die spätere Zerschlagung der Diplomstudiengänge und deren Ersetzung durch das heutige Bachelor-Master-System vorbereitet. Wenn Menschen gesellschaftlich unter Druck gesetzt werden, vergrößert sich die Gefahr, daß sie sich gegenseitig bekämpfen, und die Linke war darin keine Ausnahme. Die FKP-Redaktion hatte sich damals beim Thema Kindesmißbrauch, das heißt in der Frage nach dem Verhältnis von Diagnostik, Parteilichkeit für die Opfer und Persönlichkeitsrechten von Beschuldigten scheinbar hoffnungslos zerstritten. Für einige Zeit galt die Kritische Psychologie und ihre Berufung auf den Marxismus als veraltet, denn der praktische und ideologische Sieg des Kapitalismus schien, wenn nicht gar endgültig, so doch auf Jahrzehnte gesichert.

Letzteres stellte sich bekanntlich als Irrtum heraus. Gesellschaftliche Krisenphänomene haben in den letzten Jahren auch das Interesse an kritischen Wissenschaften wiederbelebt. Dies zeigt sich unter anderem an einer Reihe relativ neuer empirischer Veröffentlichungen in der Tradition der Holzkamp-Schule: Ulrike Eichinger schrieb über den Umgang von Sozialarbeitern mit deregulierten Beschäftigungsverhältnissen, Lorenz Huck über die Motive jugendlicher »Intensivstraftäter«, die Gruppe um Josef Held über die Arbeitserfahrungen junger Beschäftigter im Dienstleistungsbereich, Christoph Vandreier über die Selbsthilfe in die Krise geratener Drogenkonsumenten. Im September 2012 organisierten Studierende und junge Absolventen an der FU Berlin die »Ferienuniversität Kritische Psychologie« mit 800 Teilnehmenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Damit, so scheint es, ist der Ansatz Holzkamps in die studentischen Arbeitsgruppen zurückgekehrt, die in den 1960ern wesentlichen Anteil an seiner Entstehung hatten. Wolfgang Maiers und Morus Markard sind die letzten Professoren und Berliner Weggefährten Holzkamps, die noch nicht emeritiert sind. Kritische Psychologen der Zukunft werden, so sie Stellen an einer der ehemaligen Fachhochschulen ergattern, relativ schlecht bezahlt und unter hoher Lehrbelastung forschen müssen. Vermutlich wird es weniger bahnbrechende Werke geben, die zu schreiben kaum jemand noch die Zeit finden kann. Dafür aber entstehen vielleicht viele kleine Arbeiten, die sich dem allgegenwärtigen, wissenschaftlich getarnten Konformitätsdruck entziehen und in einer verödeten akademischen Welt für produktive Unruhe sorgen. Letzteres würde Holzkamp sicher gefallen.

Michael Zander ist Psychologe und lebt in Berlin. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über die Sherlock-Holmes-Erzählungen von Arthur Conan Doyle (jW-Thema vom 24.11.2012)

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