Sonntag, 6. Januar 2013

Camus vs. Sartre (www.criticalpsychology.wordpress.com #camus #sartre)

Auferstehung eines Atheisten

http://derstandard.at/1356426780428/Auferstehung-eines-Atheisten

Stefan Brändle, 4. Jänner 2013, 18:06
  • "Ein unbequemer Zeitgenosse, der überall auf der Welt das Unrecht     anprangerte": der algerien-französische Schriftsteller Albert Camus (1913-1960).
    archivfoto (1956): ap

    "Ein unbequemer Zeitgenosse, der überall auf der Welt das Unrecht anprangerte": der algerien-französische Schriftsteller Albert Camus (1913-1960).


Vor 100 Jahren wurde der unbeugsame Albert Camus geboren. Frankreich gedenkt 2013 seines wichtigsten Autors des 20. Jahrhunderts

Zu Camus' Geburtstag wird auch der Eindruck eines wie von Sinnleere gelähmten Denkers widerlegt. Wie von neuem entdecken die Franzosen die Sinnlichkeit seiner Sprache.

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Um mit Camus zu sprechen: Es ist fast absurd. Da erhielt der wichtigste französische Autor des 20. Jahrhunderts 1957 den Nobelpreis für Literatur; sein Hauptwerk L'Étranger ist das meistverkaufte Taschenbuch Frankreichs, und auch Die Pest ist Weltliteratur. In Frankreich wurde aber Camus nie die verdiente Anerkennung zuteil. Der 1913 in Mondovi (Algerien) geborene Autor blieb zeit seines Lebens Außenseiter. Im hochtrabenden Paris war der schlichte Kolonialfranzose mit dem ansteckenden Lachen ein Exot. Nach seinem Unfalltod 1960 mit 46 Jahren vergingen zwei Jahrzehnte, bis in Frankreich die ersten fundierten Biografien erschienen.

Diese Diskrepanz zwischen literarischem und gesellschaftlichem Erfolg hat seine Gründe. Camus war ein unbequemer Zeitgenosse. Überall auf der Welt prangerte er das Unrecht an, er verurteilte als erster Intellektueller die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki; er überwarf sich mit den Marxisten, und in Algerien zog er sich den Zorn der Kolonialisten zu. Nicht zuletzt stammte der mittellose Arbeitersohn und Halbwaise aus dem "arabischen" Landeswinkel. Seine Heimat war Belcourt, ein Armenquarter von Algier. Dort wuchs Camus ohne seinen Vater auf, der im Ersten Weltkrieg gefallen war. Die analphabetische Mutter hielt sich als Putzfrau über Wasser. Dank seines Lehrers erhielt Camus ein Stipendium und begann zu schreiben.

Zum Beispiel über Tipasa, die römischen Ruinen westlich von Algier, die er mit Studienfreundinnen aufsuchte, wo "die Götter durch die Sonne sprechen", wie der junge Poet in seinem ersten, 225-mal gedruckten Essay Hochzeit des Lichts festhielt. Camus war damals bettelarm, unter Tuberkulose leidend, die ihn Blut husten ließ. Der junge Prolet mit dem Bogart-Look heiratete eine morphiumsüchtige Studentin aus der Kolonialbourgeoisie. Ihre Ehe dauerte nur zwei Jahre. Ebenso kurz hielt es ihn in der kommunistischen Partei. Nach vielen Hilfsjobs wurde er 1937 Redakteur beim Alger républicain. Der 24-Jährige wurde aber bald gefeuert, als er in Reportagen über die Ausbeutung der Algerier und Kabylen durch die Franzosen berichtete. Mit Francine Faure, der Frau seines Lebens, reiste Camus bei Kriegsausbruch nach Frankreich. Dort betätigte er sich weiter journalistisch, im Untergrund auch gegen die Nazis.

1942 erschien Der Fremde, eine existenzielle Geschichte von Sonne, Meer und Tod. All dies findet sich im Namen der Hauptfigur, Meursault, der gleichgültig die Mutter beerdigt, am Strand einen Einheimischen erschießt und zum Tod verurteilt wird. Nach dem Krieg wurde Camus rasch das Etikett des Existenzialisten umgehängt. Seine laut Roland Barthes " solare" Philosophie hatte aber wenig mit den durchzechten Studentennächten von Saint-Germain-des-Prés gemein; eher war sie erfüllt vom schnellen, körperlichen Leben der jungen Algerier; es vibrierte ohne Moral, ohne Erinnerung und "ohne Geist", wie Camus sagte; es strotzte vor Vitalität, verbrannte aber so rasch wie die in Algier übergangslos versinkende Sonne. In seinem philosophischen Hauptwerk Der Mythos von Sisyphos distanzierte sich Camus ausdrücklich von den Existenzialisten. Er merkte, dass ihre Haltung nur eine unterschwellige Resistenz gegen das noch taufrische Kriegstrauma Europas war, und warf ihnen "Ausweichen" vor der Kernfrage des Lebens vor.

Für den Atheisten aus Algier hatte das Leben keinen Sinn oder Zweck. Es ist so absurd wie das stets neu beginnende Steinerollen des antiken Helden, Ausdruck eines tragikomischen Wiederholungsreflexes. Aber der Umstand, dass der Mensch nicht aufgibt, führte Camus zum berühmten Schluss: "Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen." Sinnstiftend sei unter anderem der Auf- oder Widerstand, führte Camus nach dem Krieg in Der Mensch in der Revolte aus.

In diesem auch sehr politischen Werk stellte er sich mutig gegen den Parti communiste français (PCF), der das Geistesleben in Paris steuerte. Camus geißelte jede Form von Totalitarismus und Terror. Auch den Staatsterror, der mit seinem ideologischen Zweck die Mittel heiligt. " Und wer heiligt den Zweck?", konterte der Moralist mit der Schlichtheit, die Imperien zum Einsturz bringt. Der Mensch in der Revolte hätte auch Jean-Paul Sartre, der vor den Fa-brikstoren auf Mülltonen die Revolution predigte, begeistern müssen. Aber nein, der Pariser Vordenker brach ob dieses Werkes mit seinem Freund Camus. Seit Camus mit Theaterinszenierungen und hochphilosophischen Schriften auffiel, kam er dem Pariser Platzhirsch zunehmend ins Gehege. In Sartres Hausblatt Les Temps modernes erschienen gehässige Kommentare.

Die Rechten beäugten Camus ihrerseits mit Misstrauen, seitdem er die französischen Massaker im Sétif mit etwa 10.000 toten Algeriern wieder einmal als Einziger gegeißelt hatte. Dabei stand Camus dem Unabhängigkeitskampf der algerischen Befreiungsfront FLN mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber: Er, der dank der französischen Sprache auch aus der geistigen Misere gefunden hatte, ertrug die Abspaltung der Heimaterde von seinem inneren Mutterland Frankreich nicht.

Anders als Sartre verurteilte Camus die Gewalt beider Seiten. Damit hatte es sich der Unbeugsame mit allen verdorben - mit den Kolonialisten und Algeriern, mit der Rechten und Linken. Sogar sein Schweigen werde ihm angekreidet, meinte Camus, müde von der Revolte. Nur im fernen Schweden anerkannte man seine Haltung überraschend: 1957 erhielt er den Literaturnobelpreis. Mit dem Preisgeld erwarben er und Fran-cine ein Haus im Provence-Dorf Lourmarin. Dort fand er nochmals die Sonne des Midi und schrieb sein Leben in der dritten Person nieder. Der erste Mensch ist der ergreifende Bericht einer aussichtslosen Vatersuche, ein Roman voller Schmerz und Freude. Camus hatte seinen Erzeuger im ersten Lebensjahr verloren; nun dachte er zurück an "die Kindheit, von der er nie heilte, an das Geheimnis des Lichts und an die warmherzige Armut, die ihm zu leben und alles zu meistern geholfen hatte".

Am Grab seines Vaters hatte der Erzähler erkannt, dass es ohne Erinnerung keine Zukunft gibt; später fühlt er sich wie eine "einsame, ständig vibrierende Klinge, deren Los es war, auf einmal und unwiderruflich zu zerbrechen, so wie die reine Leidenschaft für das Leben plötzlich mit dem totalen Tod konfrontiert wird". Camus schrieb dies kurz vor dem 4. Januar 1960 in Lourmarin nieder. An diesem Tag fuhr er in einem von Michel Gallimard gesteuerten Wagen nach Paris. Zur Mittagszeit kam der starke Facel Vega in Burgund von der Route nationale ab und prallte gegen eine Platane. Camus war auf der Stelle tot. Sein Leben endete so tragisch-abrupt, als wäre es seinem Werk entnommen.

Aus nie ganz geklärten Gründen, die viel aussagen über Camus' Stellung in Frankreich, erschien die Autobiografie Der erste Mensch erst 1994. Mittlerweile hatten sich die Argumente seiner Gegner abgenutzt; das Camus'sche Werk wurde und wird durch die verflossene Zeit hingegen noch geadelt. Allerdings konnte der "nouveau philosophe" Bernard-Henri Lévy noch 2000 eine lobhudelnde Sartre-Biografie herausbringen und Camus ungestraft als reaktionären Feigling hinstellen. Absurd: Camus hatte im Zweiten Weltkrieg für die Résistance-Zeitschrift Combat geschrieben. Sartre kollaborierte bis 1944 gelegentlich sogar mit den deutschen Besatzern.

Diese Zurechtbiegung der Fakten durch Sartres Exegeten war aber so grotesk geworden, dass sie fast ihr Gegenteil bewirkte. In Paris sprangen konservative Politiker auf das Camus-Revival auf, und Staatspräsident Nicolas Sarkozy schlug 2009 vor, Camus' sterbliche Überreste in das Pantheon zu überführen. Tochter Catherine, Camus' Nachlassverwalterin, meinte ge-genüber dem Standard: "Es kommt gar nicht infrage, ihn auf irgendeine Weise zu mumifizieren." Sarkozy kam bis zu seinem Amtsende 2012 nicht mehr auf seinen Vorschlag zurück. Die Camus-Zunft bereitet umso energischer seinen 100. Geburtstag im Jahr 2013 vor. Der Philosoph Michel Onfray veröffentlichte den Essay L'ordre libertaire, in dem er Camus fast zum Anarchisten stilisiert und eine Frontalattacke gegen Sartre reitet. Letzterer habe Camus aus Berufsneid " zerstört, beleidigt, verachtet, erniedrigt, beschmutzt".

Onfray projiziert seine eigene Position auch sonst in sein Camus-Bild. Die Art, wie er Sartre vom Sockel stößt, ohne dass die Medien Einspruch erheben, zeugt aber von einem Paradigmenwechsel. Frankreich wird mit gnadenloser Klarheit vorgeführt, wie Sartre und Beauvoir die Camus-Rezension weit über Camus' Tod hinaus prägten, als die eines Zweite-Klasse-Philosophen, der mit seiner simplen Sprache gerade zur Schullektüre tauge. Man kann nur staunen, wie lange das Land des "esprit" sich in Camus - und in Sartre! - so täuschen konnte.

Nun scheint es, als wollte die Grande Nation vergangenes Unrecht gutmachen und ihrem Algerier endlich die gebührende Ehre zuteilwerden lassen. Zu seinem 100. Geburtstag wird auch der Eindruck eines von der Sinnleere gelähmten Denkers widerlegt; wie neu entdecken die Franzosen die Sinnlichkeit seiner Novellen und einer Sprache, die fast schon mit seinen zehn bevorzugten Worten auszukommen scheint: Welt, Schmerz, Erde, Mutter, Menschen, Wüste, Ehre, Elend, Sommer und Meer. Und Algerien, ließe sich anfügen, wenn dieses Wort nicht schon die zehn anderen resümieren würde.

In Algerien, aber vor allem in Frankreich, sind Dutzende von Ehrungen Camus' in Vorbereitung, dazu eine Comics-Ausgabe von L'Étranger. Aix-en-Provence plant eine Gesamtschau, die noch heute vom Algerienkrieg überschattet wird: Der - für die Franzosen zu parteiische - Historiker Benjamin Stora wurde vermutlich auf Druck der französischen Pieds-Noirs, der Algerienheimkehrer, als Chefkonservator kurzfristig abgesägt. Nachfolger wurde der algerienpolitisch unbedarfte Onfray; doch als die Regierung in Paris aus Spargründen die Subvention für die Camus-Expo strich, stieg auch er aus dem "Narrenschiff", wie er das Projekt nannte, aus. Marseille, Frankreichs Tor zu Algerien und EU-Kulturhauptstadt im Jahre 2013, gedenkt mit passenderen Teilnehmern: Ein Fußballturnier zu Ehren des Hobbytorwarts Camus steht unter dem Patronat eines ehemaligen Marseiller Spielerstars, Zinédine Zidane - auch so ein unvergesslicher Exilalgerier. (Stefan Brändle, Album, DER STANDARD, 5./6.1.2013)

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