Die Neurowissenschaften können bekanntlich alles erklären. Ihrem Anspruch auf Deutungshoheit hat Felix Hasler eine Streitschrift gewidmet.
von Judith Heckel
Wir befinden uns heute unübersehbar im »Zeitalter des Gehirns«. Kaum ein soziologisches, psychologisches oder ästhetisches Forschungsprojekt, das seine menschlichen Untersuchungsobjekte nicht zur Datenerhebung in den Hirnscanner schiebt; keine geistes- und sozialwissenschaftliche Fakultät, die nicht die eine oder andere »Neuro-X-Disziplin« betreibt; kein gesellschaftliches Phänomen – von der Vorliebe für Schokolade bis zur Wahlniederlage von Hillary Clinton –, das nicht irgendwie auf spezifische Hirnstrukturen und -funktionen zurückgeführt wird.
Dieser »weltbildgebende Auftritt« der Neurowissenschaften geht auch Felix Hasler, Hirnforscher und Doktor der Pharmazie, derart auf die Nerven, dass er mit »Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung« eine äußerst nützliche Handreichung zur Kritik des Hypes um die Neurowissenschaften verfasst hat. Hasler weist auf »die schier unglaubliche Diskrepanz« zwischen dem gegenwärtigen Welterklärungsanspruch der Neurowissenschaften und der Aussagekraft ihrer empirischen Daten hin. Wenn die Neurowissenschaften behaupten, alles über die biologischen Vorgänge zu wissen, die menschlichem Erleben, Denken und Handeln zugrunde liegen, sei dies »fundamental« falsch.
Die Hirnforschung ist nicht die erste naturwissenschaftliche Forschungsrichtung mit Welterklärungsanspruch. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfüllte die Genetik diese Funktion, das Gen war das »zentrale organisierende Thema der Biologie«. Heute, im »Zeitalter der Postgenomik«, muss anerkannt werden, dass selbst die vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms bisher zu keiner einzigen anwendbaren Gentherapie oder brauchbaren Diagnostik für psychische oder physische Erkrankungen geführt hat.
Wenn heute das europäische Human Brain Project – der von der EU mit über einer Milliarde Euro geförderte Versuch, die Synapsenschaltungen des menschlichen Gehirns mittels Computer nachzubilden – oder das US-amerikanische Brain Activity Map Project, das mit einem Haushalt von drei Milliarden US-Dollar die Aktivität jedes Neurons im menschlichen Gehirn kartographieren möchte, die Hoffnung erwecken, aus den dort gewonnenen Erkenntnissen ließen sich unmittelbar klinische oder gar philosophische, psychologische oder soziologische Nutzanwendungen ableiten, zeugt dies, so Haslers begründeter Verdacht, von ausgewachsener Hybris.
Hasler kritisiert die Deutungsmacht der Neurowissenschaften auf mehreren Ebenen. Eher beiläufig macht er auf die Verwechslung von »Geist« und »Gehirn« aufmerksam, indem er erwähnt, dass der Schöpfer des Begriffs »Neuroscience«, Francis O. Schmitt, in den sechziger Jahren sein Neuroscience Research Program initiierte, um »einen Quantensprung im Verständnis des Geistes zu vollziehen«. Dass der Geist vollständig im Gehirn zu finden sein muss, wurde dabei schlicht vorausgesetzt. Eine erkenntnistheoretische Schlamperei, die sich bis heute vor allem in den Neuro-X-Wissenschaften wie der Neuropsychologie wiederfindet.
Das Leib-Seele-Problem, um das in der Philosophie weiter gerungen wird, erklären die Neurowissenschaften für gelöst: Geist ist eine Manifestation des Gehirns, subjektives Erleben »in Wirklichkeit« ausschließlich ein Feuern von Neuronen. Auch den von Jürgen Habermas erhobenen Vorwurf des Szientismus der Neurowissenschaften teilt Hasler. Was Habermas als ein Verständnis von Wissenschaft bestimmt, das andere legitime Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis ausschließt, hat Hasler als »akademische Arroganz von ungekanntem Ausmaß« regelmäßig auf Fachtagungen erlebt.
Hasler kritisiert nicht nur die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Neurowissenschaften. Er betreibt auch eine politische und Ideologiekritik: Wenn sozial unerwünschte Verhaltensweisen wie Schüchternheit zu »sozialen Angststörungen« pathologisiert oder Depressionen als »Serotoninmangelkrankheit« biologisiert werden, so drückt sich darin auch der Anspruch an die Subjekte aus, diese funktionsstörenden Zustände schnell und effektiv zu beseitigen. Für Hasler findet die »gesellschaftliche Notwendigkeit zur dauernden Anpassung« ihre »geradezu perfekte Entsprechung in den Konzepten zur Neuroplastizität des Gehirns. Biologie und Politik gehen Hand in Hand.«
Hasler hat als Neuropsychopharmakologe informierten Einblick in Geschichte und Nutzen von Psychopharmaka sowie in das Gebaren der pharmazeutischen Industrie. Die in der wissenschaftlichen Kritik der Effekte und Ansprüche der Neurowissenschaften häufig übersehene Frage, welche ökonomischen Interessen sich in der Forschung abbilden, spielt in seinem Urteil über die heutige neurobiologisch fundierte Psychiatrie eine große Rolle. Das zentrale Kapitel des Buches ist der Markteinführung von Psychopharmaka seit den fünfziger Jahren und der damit einhergehenden Biologisierung der Psychiatrie gewidmet. Seine Erläuterungen zu Entwicklung, Wirkung und den Gefahren von Psychopharmaka und zur Rolle neurobiologischer Forschung bei der Eroberung neuer Medikamentenmärkte sind für jeden Nichtpharmazeuten eine ebenso erhellende wie erschreckende Lektüre. Vor allem zeigt Hasler, wie ambivalent, deutungsoffen und statistisch unzureichend belegt die vermeintlich so »harten« Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung sein können.
»Neuromythologie« kritisiert auch die Methoden der Hirnforschung. Hasler schildert, wie durch mangelnde Fehlerkorrektur beim Scannen selbst an einem toten Lachs noch Emotionen beim Anblick erschreckender Fotos nachgewiesen werden konnten. Nach dem Prinzip des torture your data until they confess wird planmäßig einfach irgendetwas gemessen und so lange mit statistischen Methoden bearbeitet, bis an einer Stelle Signifikanzen, also Unterschiede oder Zusammenhänge, sichtbar werden.
Die Analyse im Scanner gewonnener Hirnbilder, wie sie in der Forschung allgegenwärtig sind, nennt der Autor »Kleckskunde«. Denn »gerade die mit bildgebenden Verfahren gewonnenen – oder vielleicht eher hergestellten – Untersuchungsergebnisse sind in hohem Maße interpretationsbedürftig«. Das Grundprinzip der Herstellung von funktionellen Hirnbildern beschreibt Hasler auch für Fachfremde verständlich. Die eindrucksvollen bunten Flecken in den Hirnscans sind Artefakte, durch Computerberechnungen nachträglich hergestellte »graphische Darstellungen der statistischen Verteilung von zeitabhängigem Blutfluss und Sauerstoffbedarf im Gehirn«. Aussagekraft gewinnen sie überhaupt erst im zeitlichen Vergleich mit Kontrollgruppenbildern oder im Bezug auf sie. Haslers Ausführungen sind aufschlussreich und zerstören sowohl den letzten Rest Ehrfurcht vor vermeintlich statistisch abgesicherten quantitativen Forschungsergebnissen als auch vor den scheinbar unmittelbaren Abbildern der Arbeit des Gehirns.
Angesichts der sehr ausführlichen fachlichen Kritik an neurowissenschaftlichen Ergebnissen kommt die erkenntnistheoretische und begriffliche Analyse ein wenig zu kurz. Hasler verschenkt an manchen Stellen die Gelegenheit zur kritischen Intervention, beispielsweise wenn er den führenden Neurowissenschaftler Wolf Singer zitiert, der angesichts des Standes neurowissenschaftlicher Erkenntnisse eine neue »Utopie der Demut« fordert: Wenn der Mensch ein »vielfältig bedingtes, geworfenes Wesen« (und zwar ein ausschließlich dem Hirn unterworfenes) und sich dessen bewusst ist, dann gestalten wir, so Singer, »unser Leben mit sehr viel mehr Demut«, als wenn wir unser Handeln zum Beispiel von moralischen Überlegungen leiten ließen.
Dies ist, und darauf geht Hasler leider nicht ein, eine brachiale biologistische, Gesellschaft ausblendende Begründung menschlichen Zusammenlebens. Hirngesteuerte Monaden ohne Reflexionsvermögen auf eigenes wie fremdes Handeln begegnen einander »in Demut« ob des großen »Bewegers« in ihren Köpfen, dessen Ziel und Zweck ihnen grundsätzlich unbekannt bleiben müssen – oder am Ende wieder der Evolutionsbiologie unterworfen werden. In solchen Aussagen zeigt sich der weltbildgebende Anspruch und ideologische Gehalt der Neurowissenschaften unverblümt.
Hasler ist jedoch weder Philosoph noch Soziologe, sondern Neurowissenschaftler. Und er schätzt seine Disziplin für die Erkenntnisse, die sie erarbeitet. Die Gewährsleute seiner Argumentation sind seltener Philosophen als ebenfalls Neurowissenschaftler, die eben nicht die gesamte neurowissenschaftliche Forschung in Frage stellen, sondern auf die Grenzen ihrer Erkenntnisform hinweisen. Damit liefert Haslers Streitschrift gerade Fachfremden Munition in der Debatte um die Neurowissenschaften als neuer Leitwissenschaft. Mit »Neuromythologie« lassen sich die Neuroenthusiasten auf ihrem eigenen Feld schlagen.
Felix Hasler: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Transcript-Verlag, Bielefeld 2012, 264 Seiten, 22,80 Euro
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